Hilfe! – Wir leben in der „Postfaktizität“!
Seit einiger Zeit ist es in Kreisen bildungsbeflissener Konsumenten überregionaler Feuilletonseiten en vogue, darüber zu diskutieren, wir lebten in postfaktischen Zeiten – eine Perspektive, die als bedrückend empfunden wird.
Zum einen bekümmert diese Menschen – mehr oder weniger tiefgründig –, dass Mitbürger – möglicherweise auch sie selbst – sich nicht mehr um Fakten kümmern, sondern vor allem Gefühlen folgen. Parallel schauen sie auf die mediale Präsentation von Politik und vermuten dort die Existenz einer „politischen Postfaktizität“.
Worum es sich hierbei handeln soll, bleibt bei Diskussionen um Postfaktizität als politisches Phänomen oft unklar:
- Ist „Postfaktizität“ tatsächlich ein neues Phänomen?
- Handelt es sich lediglich um ein Modewort?
- Ist „Postfaktizität“ lediglich ein Wort, das dazu dient, in Headline besagter Feuilletonseiten Leserinteresse zu binden?
- Oder steckt hinter „Postfaktizität“ tatsächlich – wie es im Feuilleton überregionaler Zeitungen behauptet wird – sogar eine Krise der Relevanz und Glaubwürdigkeit empirischer Wissenschaft und um einen Verfall von Realität, Objektivität und Wahrheit?
In diesem Beitrag werde ich dieser „Postfaktizität“ auf den Grund gehen und dazu ein paar wissenschaftstheoretische Argumente ins Spiel zu bringen.
Mancher Leser wird die Aufregung um „Postfaktizität“ wahrscheinlich für überflüssig und zumindest für übertrieben halten. An sich scheint die Behauptung von Postfaktizität Nonsens zu sein: Denn, diejenigen, die propagieren, heute hätte das Faktische seine Macht verloren, können im Handumdrehen widerlegt werden. Dann, wenn jemand behauptet, realistische Fakten zählten nicht mehr, stellt er eine Tatsachenbehauptung auf – etwas, dessen Unmöglichkeit er im selben Atemzug behauptet hat. – „Postfaktizität“ macht so gesehen keinen Sinn.
Dennoch: Aus der Soziologie ist bekannt, dass Menschen in Gesellschaften nicht allein durch objektive Tatsachen beeinflusst werden. Das sogenannte Thomas-Theorem der Soziologen William I. Thomas und Dorothy S. Thomas besagt, dass menschliches Handeln als reale Konsequenz von vollständigen irrealen Situationsdefinitionen auftreten kann: „Wenn die Menschen Situationen als wirklich definieren, sind sie in ihren Konsequenzen wirklich.“
Es hat sich immer wieder gezeigt, dass zynische Menschen, die über ausreichend Meinungsmacht verfügen – etwa in den Massenmedien – aufgrund einseitiger Motive Irreales Wirklichkeit werden lassen können. Vorausgesetzt, die von diesen Zynikern bearbeiteten Menschen, sind für die betreffende Einflüsterung empfänglich. Der Soziologe Robert K. Merton hat es mit Bezug auf das Thomas-Theorem so ausgedrückt: Die Interpretation einer Situation verursacht das Verhalten von Akteuren sowie deren Wahrnehmungen und ihr Denken – nicht die Dinge selbst. (1)
Wie ist das möglich?
Wahrheits-Leugnung – Quelle des allgegenwärtigen Bullshits
Steigen wir ein in die detaillierte Diskussion der Realitäts- und Postfaktizitäts-Problematik!
Wenn wir unsere Überlegungen in einem Zustand psychischer Gesundheit und auf der Basis unseres Alltagsverständnisses starten, können wir uns kaum vorstellen, dass an der Gültigkeit von Realität und Wahrheit gezweifelt werden kann.
Wir setzen die Begriffe Wahrheit und Falschheit voraus und routiniert scheiden wir tagtäglich Wahres von Falschem.
Bereits als Kinder lernen wir zwar das situative „Flunkern“ schätzen, erkennen aber – wenn die Sozialisation in üblichem Maß gewirkt hat -, dass, wenn es tatsächlich ernst wird, der Einsatz von Wahrheit unverzichtbar ist. Nicht nur um erfolgreich zu handeln, sondern auch um zu Mitmenschen eine harmonische Beziehung zu entwickeln. Wir wissen, was es heißt, über Dinge wahre Aussagen zu treffen, genauso wie wir wissen, was es bedeutet, wenn jemand statt der Wahrheit die Unwahrheit sagt. Das heißt, wir können grundsätzlich Lügen identifizieren.
Dennoch tritt in unserer Gesellschaft die Skepsis gegenüber den Begriffen Realität und Wahrheit zu Tage – und das mit Macht.
Die beschriebene „objektive“ Weltsicht des Alltags wird laufend zum Schwanken gebracht. Dass dieser Tatsache seit einiger Zeit bei einem größeren Publikum Aufmerksamkeit geschenkt wird, ist Verdienst des mittlerweile emeritierten US-amerikanischen Philosophie-Professors Harry G. Frankfurt von der Princeton University. Zwei seiner Aufsätze wurden in Buchform bei uns zu Bestsellern: „On Bullshit“ („Bullshit“) und „On Truth“ („Über die Wahrheit“) (2).
Hier analysiert Frankfurt verbalen Unrat – Bullshit –, der heute umfangreich öffentlich unter anderem über die Massenmedien in Umlauf gebracht wird. Dabei stellt Frankfurt als wesentliche Erkenntnis heraus, dass bei der äußerst wirkungsvollen Verbreitung von Bullshit die Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit eine entscheidende Rolle spielt. Die Grenzen zwischen dem, was wahr und dem was falsch ist – was real und was nicht real ist –, sind aus seiner Sicht in öffentlichen Diskussionen aufgelöst worden. Als Antreiber des Prozesses der Wahrheits-Leugnung identifiziert Frankfurt Intellektuelle, welche die Missachtung von Realitäten und Wahrheiten systematisch betreiben.
Aus seiner Sicht ist der lässige Umgang mit der Wahrheit ein bekanntes Phänomen – den meisten Zeitgenossen stoße es nicht weiter auf, dass es bestimmte Typen von Publizisten, Journalisten und Politikern gibt, die gewohnheitsmäßig ihr Spiel mit der Wahrheit treiben.
Als erfahrene Medienkonsumenten setzen wir voraus, dass diese Personen ihre manipulativen Unwahrheiten und „Fake-News“ einsetzen, um Lügen zu propagieren, Kampagnen zu realisieren und letztlich ihre Geschäfte zu machen. Wir wissen, dass sie fehlende Überzeugungskraft ihrer Argumente ständig durch die Wirkung von Lügen und Halbwahrheiten ersetzen.
Frankfurt vermutet, dass die meisten Mitmenschen dies durchschauen, aber annehmen, vor diesen Manipulationen ausreichend auf der Hut zu sein.
Was ihn zum Veröffentlichen seiner beiden kleinen Schriften antrieb, ist ein anderer, beunruhigender Typus der Wahrheitsleugnung. Als Urheber macht er Bestseller-Autoren ausfindig, die ihr falsches Spiel mit der Wahrheit treiben, obwohl einige von ihnen sich in der Vergangenheit als geachtete Vertreter der Geistes- und der Naturwissenschaften Renommee verschaffen konnten. Zu seinem Bedauern muss Frankfurt gestehen, dass auch prominente zeitgenössische Vertreter der Philosophie – eine Gruppe von Intellektuellen, deren ausgesprochene Liebe zur Wahrheit, er bisher voraussetzte – maßgeblich in die von ihm beobachtete Beseitigung der Schätzung von Wahrheit verstrickt sind.
Diese treten unter anderem als sogenannte „postmoderne“ und „postfaktische“ Widersacher der Vernunft auf, um selbstgerecht grundsätzlich anzuzweifeln, dass Wahrheit und objektive Realität sinnvolle Begriffe wären. Sie widersprechen der in den empirischen Wissenschaften verbreiteten Grundannahme, dass es stets objektiv bestimmbare Fakten gibt, die für die Beurteilung von Meinungen und Annahmen ausschlaggebend sind. Aus ihrer Sicht gibt es lediglich Meinungen, die Menschen legitimerweise unter Absehen von objektiv bestimmbaren Fakten für sich annehmen könnten, wenn sie mögen. Dass sich Meinungen grundsätzlich anhand der Feststellung einer Sachlage objektiv überprüfen und beurteilen lassen, schließen sie aus.
Wie gesehen basiert für diese Postmodernisten und Vertreter der Postfaktizität der Wahrheits-Glaube auf dem subjektiven Standpunkt von Individuen – Wahrheiten, gäbe es so viele, wie es beurteilende Subjekte gibt. Als versteckten Auslöser des Wahrheits-Glaubens sehen sie im Weiteren soziale Zwänge. Angeblich wird unsere Realitätssicht stets durch ökonomische, kulturelle oder politische Zwänge vollständig determiniert – wir sehen angeblich nur, wozu uns die umgebenden Verhältnisse treiben.
Frankfurts Fazit ist: Diese Intellektuellen verwerfen in ihren häufig populären Beiträgen die Unterscheidung von dem, was wir im Alltag für wahr und falsch halten. Sie behaupten, es gäbe nichts unbestreitbar Objektives sowie keine zwingenden Kriterien, zur Feststellung von Wahrheiten.
Vorsicht – Rinderkot!
Frankfurt ist angesichts der von ihm beobachteten intellektuellen Entwicklung offensichtlich ernsthaft beunruhigt. Allerdings verharmlost er den beschriebenen Wahrheits-Verlust durch die Verwendung des Bullshit-Begriffs entscheidend:
Mit Bullshit bezeichnet er den Tatbestand, dass in ständig mehr populären Beiträgen haltlose Meinungen verbreitet werden, für deren Inhalte niemand ernsthaft Anspruch auf Wahrheit erhebt oder voraussetzte, diese entsprächen der Realität. Aus seiner Sicht ist dieser Bullshit eine substanzlose intellektuelle „Ausscheidung“, die auf der Leugnung der Bedeutung von Wahrheit basiert, und eine lästige „Verunreinigung“ unserer öffentlichen Kommunikation bewirkt. Die Lage sei ernst, aber noch gäbe es keine wirklichen Opfer: Noch sieht Frankfurt unsere Kultur als intakt – die Belastung durch Bullshit hätte es bisher nicht vermocht, diese lahmzulegen.
Doch ist diese beschwichtigende Bewertung nicht Ergebnis der Art und Weise wie die an Universitäten betriebene Schul-Philosophie die Gesellschaft und die in ihr ablaufenden Prozesse von ihrem „akademischen Elfenbeinturm“ aus betrachtet? – Wer Philosophie studiert, beschäftigt sich vor allem mit dem Zitieren und Deuten von Schriften, die auf Autoren zurückgehen, die in der Fachgemeinschaft als Philosophen anerkannt sind. Die akademische Philosophie erforscht vor allem den Sinn von Texten, beschränkt sich mit anderen Worten auf die Anwendung sogenannter hermeneutischer Verfahren.
Das kann, wie am Beispiel Frankfurts gesehen, zu interessanten Ergebnissen führen. Es hat sich als enorm öffentlichkeitswirksam erwiesen, auf die Abscheulichkeit eines Tatbestands hinzuweisen, indem dieser als „Rinderkot“ bezeichnet wird. Doch diese Beschränkung auf Textdeutung und die Verwendung von amüsanten Metaphern trägt Gefahren in sich: Das Problem hinter dem beschriebenen Realitäts- und Wahrheits-Verlust kann durch falsche Assoziationen bewirkt gefährlich verharmlost werden: In der Realität ist Bullshit schließlich nützlich – er kann auf einen Acker verteilt den Ertrag der nächsten Ernte erhöhen. Außerdem kann das unbedachte Treten in Bullshit uns zwar momentan unsere gewohnte Trittsicherheit nehmen – ernstzunehmende Gefahr geht nicht von ihm aus.
Das Problem mit der Realität und der Wahrheit geht wesentlich tiefer.
Was kann Philosophie?
Wer mit Harry G. Frankfurt übereinstimmt in der Einschätzung, dass Bullshit tatsächlich ein überbordendes Phänomen unserer Zeit ist, wird ahnen, dass reale Mechanismen hinter dieser Erscheinung stecken. Um die Folgen von Realitäts- und Wahrheitsverlust abschätzen zu können oder gar zu erfassen, wie diesen Folgen begegnet werden kann, benötigen wir offenbar solides Wissen über reale Vorgänge in unserer gemeinsamen Welt. Das sind Dinge, die sich außerhalb von Büchern und jenseits unserer Lesezimmer abspielen. Eine lediglich sprachliche Betrachtung und eine Kritik an leichtsinniger Sprachverwendung lässt uns unbefriedigt angesichts unseres Bedürfnisses, möglichst genau einzuschätzen, welcher Entwicklung unser Leben unterworfen ist und welche Gefahren sich möglicherweise für unsere Zukunft formieren, wenn wir reale Dinge in unserer Umgebung verkennen.
Frankfurt ist Philosophie-Professor – werfen wir zwischendurch einen Blick die Geschichte der Philosophie, um zu sehen, wie es dazu kam, dass sich große Haufen mit Rinderkot bilden konnten:
Das philosophische Denken der Neuzeit entwickelt sich in engem Zusammenhang mit dem Aufkommen der modernen Wissenschaften seit dem 16. Jahrhundert. Die Philosophie wird durch die Fortschritte der empirischen Wissenschaften inspiriert, sie kommentiert und begleitet diese. Einen Höhepunkt erreicht diese Entwicklung zu Zeiten der französischen Aufklärung im 18. Jahrhundert. Zu dieser Zeit arbeiten und denken Philosophen in enger Abstimmung mit ihren wissenschaftlichen Kollegen. Sie übernehmen es, die Geltungsansprüche der Wissenschaften erkenntnistheoretisch zu prüfen und zu gegebenenfalls zu begründen. Für den dabei praktizierten klassischen Rationalismus ist typisch, dass deren philosophische Vertreter auf der einen Seite Impulse und Anregungen zur Fortentwicklung der Wissenschaften geben, aber auch ihrerseits wesentliche Orientierungen aus den Ergebnissen der Arbeit der wissenschaftlichen Zeitgenossen beziehen.
Diese Kommunikation zwischen Wissenschaft und Philosophie traf auf starken Widerstand. So startet in Deutschland als Reaktion auf die Aufklärung eine sich als äußerst einflussreich erweisende, bis heute aktive Gegenbewegung. Hier prägen sich der deutsche Idealismus und die Romantik als „gegenaufklärerische“ Bewegung gegen den klassischen Rationalismus aus. Im Zuge dessen wird der Typus der sogenannten „Geisteswissenschaften“ als Gegenmodell der modernen objektiven empirischen Wissenschaften erfunden und propagiert.
Im Feld der Philosophie bekämpfen die Gegenaufklärer von nun an systematisch – teils versteckt, teils offen – den Glauben an Vernunft und an die Möglichkeit, mit Mitteln empirischer Wissenschaft, echte Erkenntnis zu erreichen. Gegen Ende des 20. Jahrhundert ist als Ergebnis der skizzierten Gegenaufklärung schließlich die Wissenschaftstheorie durch diese anti-rationalistische Entwicklung in Mitleidenschaft gezogen worden. Damit sind sich selbst die Vertreter derjenigen Disziplin, die sich mit der Untersuchung der Struktur, der Entwicklung und den Geltungsansprüchen wissenschaftlicher Erkenntnisse beschäftigt, nicht mehr sicher, ob rational geplante Wissenschaft wahres Wissen erreichen kann. „Anything goes“- „Mach was Du willst“, um es anhand eines bekannten Slogans des Autors Paul Feyerabend zu illustrieren. Angeblich gibt es keine rationalen und allgemein gültigen Regeln zur Anleitung der Forschung, die das Erreichen der Wahrheit sicherstellen könnten. Objektive Erkenntnisse der Wissenschaft kann es nicht geben, weil deren Hypothesen gemäß Feyerabend nicht durch empirische Untersuchungen zu Fall zu bringen sind und unabhängig von eventuell konträren Forschungsergebnissen behauptet werden.
Die Kritik an modernen Wissenschaften und Technologien in Verbindung mit der Kritik an der Rationalität ist im Zuge dieser Entwicklung zum zentralen Grundsatz mancher Philosophien geworden. Die Ablehnung wissenschaftlichen Vorgehens und der objektivierenden wissenschaftlichen Sprache hat beinahe schon den Status eines philosophischen „Gemeinguts“ erlangt. Im Nachkriegs-Deutschland wird die Ablehnung der klassischen Rationalität und deren enge Verbindung zur modernen Wissenschaft, wie sie zu Zeiten der Aufklärung bestand, beispielsweise federführend von der „kritischen Theorie“, also den Vertretern der sogenannten „Frankfurter Schule“ getragen. – Als Frankfurter Schule wird eine Gruppe von Autoren bezeichnet, die sich auf die Werke von Hegel, Marx und Freud berufen. Die Vertreter dieser „Schule“ eint eine generelle Kritik des instrumentellen und funktionalistischen Vernunftgebrauchs im Spätkapitalismus. Empirisch belegte Untersuchungen konkreter Institutionen oder gar aus solchen abgeleitete Konzepte für mögliche institutionelle Reformen hat die Frankfurter Intellektuellen-Gruppe nicht vorgelegen können. (3)
Eng verknüpft mit einem Zweifel am Wert des Humanismus ist diese Wissenschafts-Feindlichkeit ebenfalls Hauptmotiv der Schriften Martin Heideggers, die nicht nur bis heute das philosophische Denken in Deutschland, sondern auch die Entwicklung der „postmodernen Philosophie“ in Frankreich beeinflusst hat.
Wissenschaft = Ideologie?
Hätte sich die Wirkung dieser philosophischen Gegenaufklärung auf intellektuelle Zirkel in kulturellen Nischen unserer Gesellschaft beschränkt, wäre kaum Schaden entstanden. Dadurch, dass sie allerdings Lehrer an großen Hochschulen beeinflussen konnte, bekam sie über lange Zeiträume Einfluss auf die „geisteswissenschaftliche“ Ausbildung von Studierenden. Konsequenz ist, dass bis heute Journalisten in überregionalen Medien „gegenaufklärerisch“ geprägt sind. Dass hat Folgen für die Art und Weise in der beispielsweise Themen im Feuilleton bearbeitet werden und Buchveröffentlichungen von Autoren besprochen werden, die Träger der als Bullshit gekennzeichneten Missachtung von Realität und Wahrheit sind. Charakteristisch für solche Medien, die häufig sogar als „Organe“ der höheren Bildung positioniert sind, scheint, dass sie die mehr oder weniger offen ausgesprochene Distanz gegenüber den empirischen Wissenschaften entweder mittragen oder zumindest tolerieren.
Mario Bunge – ebenfalls in Nordamerika lehrender Philosophie-Professor – verweist in diesem Zusammenhang auf den Fall der Gleichsetzung von Wissenschaft und Technologie. Der Autor Jürgen Habermas, aber auch andere Vertreter der „kritischen Theorie“, hätten zwei „Gleichungen“ aufgestellt, für die sie allerdings nie überzeugende Beweise vorgelegen konnten, da sie grundlegend falsch und unrealistisch sind (4). Zum einen behaupteten sie: „Wissenschaft = Technologie“ und darüber hinaus „Wissenschaft/Technologie = Ideologie des Spätkapitalismus“. Unglücklicherweise haben sich diese Gleichsetzungen in öffentlichen Diskussionen erfolgreich durchsetzen können. Und das obwohl Wissenschaft und Technologie zwei grundlegend voneinander getrennt zu betrachtende Tatbestände sind.
Es lohnt sich, den Grund dafür anzusehen: Grundwissenschaften etwa beschäftigen sich mit der Wahrheit von Tatsachenbehauptungen; Forscher in diesem Feld beurteilen Wahrheit oder Falschheit dieser Behauptungen mit Blick auf objektive Fakten, also unabhängig von politischen oder wirtschaftlichen Interessen. An einem Beispiel: Die Feststellung, dass Wasserstoffmoleküle meist über zwei und nicht etwa über fünf Atome verfügen, gilt unabhängig von den ideologischen Vorlieben oder von der Höhe des Gehalts der diese Annahme für wahr haltenden Forscher. Denn Wasserstoffmoleküle haben tatsächlich meist zwei Atome. Kurz gesagt: Forscher beurteilen ihren Gegenstandsbereich in ihrer Rolle als Wissenschaftler aufgrund objektiver Fakten. Sollten sie das nicht tun, verletzten sie die Regeln ihrer wissenschaftlichen Disziplin und werden früher oder später aufgrund der Kritik ihrer Kollegen aus dem Wissenschaftsfeld gedrängt. Im Fall der Technologien sehen die Umstände durchaus anders aus. Hier arbeiten beispielsweise Ingenieure auf der Basis wissenschaftliches Wissen zum Nutzen ihrer Auftraggeber oder Arbeitgeber. Auch dieses Wissen muss objektiv sein und auf unverfälschten Wahrheiten beruhen, andernfalls könnten die Techniken, die sie entwickeln nicht funktionieren. Allerdings können die Ergebnisse ihrer Arbeit für einseitige Interessen genutzt werden. Bei diesen einseitigen Interessen können tatsächlich Ideologien eine Rolle spielen.
Wie gesehen kritisieren professorale Intellektuelle, die sich vor allem auf den Idealismus Hegels und die Dialektik Marx‘ berufen, empirische Wissenschaften. Ihre Strategie besteht aus einer unhaltbaren Gleichsetzung eines ökonomischem Konzepts – Kapitalismus – mit einer Methode der sachlich begründeten Wissensgewinnung. Als „Geisteswissenschaftler“ bemühen sie sich offensichtlich darum, ihren Status als „Inhaber einer höheren Vernunft“ zu verteidigen. Statt empirisch begündete, aktuell relevante Kritik etwa an Technologie-Anwendungen zu üben, nehmen sie für sich eine moralisch höhere Warte in Anspruch, von der aus Fakten vermeintlich keine Rolle spielen. Sie benutzen damit eine „antifaktische“ Strategie, um ihre Position als Denker höherer Ordnung zu untermauern. Ist eine solche antifaktische Haltung harmlos oder ist sie mit Risiken verbunden? – Das ist sie! Und das offenbar insbesondere dann, wenn sie von der breiten Öffentlichkeit geteilt wird. – Warum?
Risiken der Wahrheitsverweigerung: Leugnung der menschenbewirkten Klimaveränderung
Wenn wissenschaftliche Rationalität und Erfahrung auf der Basis der unkorrekten Gleichung „Wissenschaft = Technologie“ verdammt und Wissenschaftlern grundsätzlich einseitige politische und wirtschaftliche Interessen unterstellt werden, bleibt das nicht ohne schwerwiegende Konsequenzen. Wissenschaftliches Wissen droht in der Folge in einer Gesellschaft soweit an Akzeptanz einzubüßen, dass ernstzunehmende Risiken entstehen. Risiken, die darauf beruhen, dass notwendige Korrekturen an Fehlentwicklungen nicht mehr vorgenommen werden können. Fehlentwicklungen, die auf der Basis einer realistischen Philosophie objektiv analysierbar und realistisch lösbar wären.
Starten wir mit der Betrachtung solcher Fehlentwicklungen und deren möglicher philosophischer „Behandlung“ – beginnen wir bei einer Katastrophe, die zukünftig das Schicksal vieler Millionen Menschen bestimmen wird:
In ihrem vielbeachteten gemeinsamen Buch „Merchants of Doubt“ (5) beschreiben die Wissenschaftshistoriker Naomi Oreskes und Erik Conway, wie ein kleiner einflussreicher Kreis von Personen wichtige politische Entscheidungen verhindern konnte, indem er die beschriebene „Labilität“ der Akzeptanz empirischer Wissenschaften strategisch für seine eigennützigen Ziele ausnutzt. Dabei richteten sie sich unter anderem gegen Forschungsergebnisse zu Gefahren von Tabakkonsum und zur Klimaerwärmung. Ihnen gelang es, kompetente Fachwissenschaftler soweit einzuschüchtern, dass diese es nicht wagten, die zweifelsfrei feststehenden Fakten und Wahrheiten öffentlich zu vertreten.
Oreskes und Conway führten dies unter anderem auf eine Paradoxie zurück. Sie beobachteten, dass sich Wissenschaftler durch ihre Selbstverpflichtung auf Sachkenntnis und Objektivität in einer heiklen Lage befinden, wenn es darum geht, falschen Behauptungen zu widersprechen. Der in der Öffentlichkeit durch gewisse Intellektuelle stetig genährte Grundverdacht, Wissenschaftler verfolgten insgeheim ideologische oder politische Interessen, führt bei ihnen zu einem Zustand der Einschüchterung. Sie haben Angst davor, ihnen könnte vorgeworfen werden, sie hätten ihre fachliche Objektivität verloren. Deshalb neigen sie dazu, sich herauszuhalten, wenn beispielsweise die Klimaerwärmung und ihre schädlichen Auswirkungen öffentlich diskutiert werden.
Insgeheim hoffen sie auf die sich selbst verwirklichende Kraft der Wahrheit: Forscher sehen es zwar als ihre Aufgabe an, herauszufinden, was wahr ist. Wird demgegenüber irgendwo Unsinn verbreitet, glauben sie, es müsste sich jemand anderer darum kümmern, was häufig aber nicht geschieht.
Aufgrund dieser Einstellung sind Wissenschaftler eine leichte Beute derjenigen politischen und wirtschaftlichen Manager, die den Tatbestand der sogenannten „anthropogenen“ globalen Erwärmung unserer Atmosphäre leugnen. Trotz grundlegender, durch Forschung bestens gesicherter Erkenntnisse der Klimaforschung gelingt es diesen „Klimaskeptikern“ ohne großen Widerstand den menschlichen Ursprung der schnell voranschreitenden Klimaveränderung in Zweifel zu ziehen. Dazu brauchen sie lediglich öffentlich zu behaupten, die Wissenschaft wäre sich nicht einig über die negativen Klimafolgen jahrhundertelanger industrieller Ausbeute unserer Erde.
Basis der Wissenschaften sind Diskussionen über Forschungsergebnisse. Fakten werden analysiert und von parallel arbeitenden Forschungsteams unterschiedlich bewertet. Wissenschaftliche Diskussionen sind daher in vielen Phasen der Wahrheitsfindung konträr. Das mag Außenstehende irritieren – doch im Fall der Klimaforschung herrscht ungewöhnliche Einhelligkeit unter den Spezialisten. 98% der Klimaforscher sind von der Evidenz der anthropogenen Erwärmung überzeugt. Lediglich die restlichen 2 % sind Skeptiker, die allerdings wesentlich weniger Fachpublikationen vorzuweisen haben als die Mehrheit der überzeugten Wissenschaftler. Obwohl die 2%-Splittergruppe lediglich über unterdurchschnittliche Expertise verfügt, schenken ihnen die Medien ein unverhältnismäßig großes Echo. Journalisten sind hierzu bereit, weil sie offenbar glauben, in ihren Stories stets „beiden Seiten“ Raum geben zu müssen – die Objektivität von Argumenten oder gar die Wahrheit, der von der „anderen Seite“ behaupteten Tatbestände wollen oder können sie nicht beurteilen. Ergebnis ist, dass viele Menschen bis heute verunsichert sind. Sie nehmen irrigerweise an, dass die Ursachen des Klimawandels unter Experten umstritten sind. Sogar, dass es überhaupt einen Klimawandel gibt, sind manche Bevölkerungskreise zu bezweifeln bereit.
Fazit: Heute wird beklagt, in Diskussionen nähme die Berücksichtigung von Fakten zu wenig Raum ein.
Dies ist kein neues Problem. Es ist grundsätzlich schwierig, sachlich begründete Rationalität im Rahmen von Entscheidungen zu mobilisieren.
Diese Rationalität als Ressource zu entwickeln und zu nutzen, ist eine wichtige Herausforderung der nächsten Jahre und Jahrzehnte.
Richtiges Denken und Entscheiden ist angesichts der Komplexität unserer Welt und der Bedrohlichkeit von Entwicklungen kein Luxus, sondern Überlebens-Voraussetzung.
Anmerkungen
(1) Siehe:
- Droste, Heinz W.; Kommunikation. Planung und Gestaltung öffentlicher Meinung – Band 2: Mechanismen; Neuss 2011; S. 489-528
- Merton, Robert K.; „The Thomas Theorem and the Matthew Effect”; in: Social Forces, 74 (2), December 1095; S. 379 – 424
- Merton, Robert K.; „Die Eigendynamik gesellschaftlicher Voraussagen”; in Topitsch, Ernst (Hg.); Logik der Sozialwissenschaften; Königstein/Taunus 1980 (10); S. 144-61
- Thomas, William Isaac; Dorothy Swaine Thomas; The Cild in America. Behavior Problem and Programs; New York 1928
(2)
- Harry G. Frankfurt, Bullshit, Frankfurt 2006
- Harry G. Frankfurt, Über die Wahrheit, München 2007
(3)
- Richard Münch; Die Kultur der Moderne, Frankfurt 1986; S. 683-742
(4)
- Mario Bunge, Evaluating Philosophies, Dortrecht, Heidelberg, New York, London; 2012
(5)
Originalversion:
- Naomi Oreskes; Erik Conway, Merchants of Doubt. How a Handful of Scientists Obscured the Truth on Issues from Tobacco Smoke to Blobal Warming; New York/Berlin/London 2010
Deutsche Ausgabe:
- Naomi Oreskes; Erik Conway; Die Machiavellis der Wissenschaft: Das Netzwerk des Leugnens; Weinheim: 2014
Design
- Fotos gefunden auf Unsplash – Fotografen:
Ján Jakub Naništa, Martin Sanchez, Jon Tyson, Kayla Velasquez, Christian Gertenbach, Elijah O’Donnell, Alex Iby, Markus Spiske, Valentin Lacoste, Jasper Wilde, Dikaseva und Juan Davila. - Artwork gestaltet mit Adobe Spark
Autor: Heinz W. Droste