Psychotherapie per Smartphone-App?
Psychologen an der Universität Zürich erforschen die Gestaltbarkeit von Persönlichkeiten.
„Menschen wollen eine aktive Rolle bei ihrer Persönlichkeitsentwicklung spielen.“ – Das ist der Ausgangspunkt eines Fachartikels, den die beiden Psychologie-Professoren Mathias Allemand und Christoph Flückiger von der Universität Zürich kürzlich im Fachmagazin einer großen amerikanischen psychologischen Gesellschaft veröffentlicht haben. (1)
In ihrem Artikel geht es im Detail um die Möglichkeit, Individuen mit Digitaltechnologie auszustatten, die beispielsweise auf deren Smartphones läuft.
Hintergrund ist: Smartphones sind in der Regel stets nah bei ihren Besitzern und können so die Rolle eines „digitalen Coaches in der Tasche“ übernehmen, der in alltäglichen Kontexten Anleitung und Unterstützung bei der Persönlichkeitsentwicklung bietet.
Allemand und Flückinger stellen in ihrem Artikel eigene Forschungsergebnisse aus einem aktuell wachsenden Forschungsgebiet vor. Sie kommen dabei zu dem Schluss, dass ihre Ergebnisse vielversprechend, wenn auch zukünftig zu prüfen und vertiefen sind.
In diesem Zusammenhang sehen sie die Idee gestützt, dass Persönlichkeitsmerkmale dynamischer und plastischer sind als in der Psychologie bisher angenommen wurde und verweisen auf das Potenzial von Interventionsmaßnahmen.
„Zu verstehen, wie Persönlichkeitsmerkmale und -facetten verändert werden können, sowie die potenziellen Vorteile und Herausforderungen einer solchen Veränderung sind vielversprechend für die Förderung des menschlichen Wohlergehens und des gesunden Alterns.“ – fassen die beiden Psychologen ihren Beitrag zusammen.
Digitaler Coach auf dem Smartphone sorgt aus Sicht der Forscher für positive Persönlichkeits-Änderungen.
In einem ihrer beiden Versuche, die sie in ihrem Artikel beschreiben, untersuchten sie die Wirksamkeit einer dreimonatigen digitalen Coaching-Intervention gestützt auf Smartphone-Software-Technologie. Zum Einsatz kam die Smartphone-Anwendung PEACH (https://www.personalitycoach.ch/), ein digitaler Coach, der Menschen automatisch bei der Erreichung ihrer Ziele zur Persönlichkeitsveränderung anleitet und unterstützt sowie Mikrointerventionen ermöglicht.
Die Teilnehmer interagierten zweimal täglich mit der Software und erhielten dabei Aufklärung, Verhaltens-Aufträge, Feedback, Ermutigung und Unterstützung. Wie können Mikrointerventionen und Textnachrichten aus dem Handy aussehen? Welchem „therapeutischen“ Konzept folgt dieses digitale Coaching?
In ihrem Artikel listen die Autoren den verwendeten Content, der therapeutisch gesehen vierstufig arbeitet, beispielhaft auf. – Weiter unten stellen wir diese Inhalte ins Deutsche übersetzt dar.
Vorweggenommen sei, dass die Psychologen von der Wirksamkeit des Smartphone-Coachings überzeugt sind. Die von den Teilnehmern ihres Digital-Coachings erwarteten positiven Persönlichkeitsänderungen stellten sich aus ihrer Sicht ein. Diese Veränderungen stimmten mit den selbst gewählten Zielen überein und waren signifikant. Beobachter, wie Freunde, Familienmitglieder oder Partner und Partnerinnen stellten ebenfalls signifikante Veränderungen bei den Teilnehmern fest. Die hervorgerufenen Veränderungen blieben 3 Monate nach der Intervention bestehen. Allerdings ist zukünftig zu überprüfen, ob sich diese Veränderungen im Laufe der Zeit zurückbilden oder dauerhaft sind. Es werden Folgeuntersuchungen über längere Zeiträume benötigt. Diese Arbeit liefert gemäß der beiden Züricher Psychologen den bisher stärksten Beweis dafür, dass Persönlichkeitsmerkmale durch digitale Intervention in eine gewünschte Richtung verändert werden können, und stelle damit grundsätzlich traditionelle Positionen in Frage, welche die Unveränderlichkeit der Persönlichkeit betonen.
Kritik aus Richtung Wissenschaftstheorie und Ethik
Aus der Sicht von Leserinnen und Lesern seien an dieser Stelle noch zwei Kritikpunkte ergänzt:
Zunächst ein wissenschaftstheoretisch-ontologischer Aspekt. – Bereits im Jahr 2004 hatte der ebenfalls in der Schweiz tätige, leider früh verstorbene Psychotherapie-Forscher Klaus Grawe darauf hingewiesen, dass Psychotherapie, klinische Psychologie und Psychiatrie auf neurowissenschaftliches Wissen aufbauen sollte. (2) Obgleich der eine Autor des vorliegenden Artikels – Christoph Flückiger – bei Grawe promoviert hat, wird hier nicht auf die Therapie-Prozessen zugrundeliegenden neuronalen Mechanismen Bezug genommen.
Weiterhin fehlt in dem Artikel die Therapie-ethische Problematisierung der Entwicklung von digitalen Coaching-Apps: Wer verhindert, dass solche Technologien zur Massenmanipulation von an der eigenen psychischen Entwicklung interessierten Menschen missbraucht wird?
Änderungsfaktor 1
Das Gewahrsein einer aus der Sicht der Diskrepanz anregen: Dieses Veränderungsprinzip basiert auf der Annahme, dass die Persönlichkeit am effektivsten verändert werden kann, wenn Menschen mögliche Diskrepanzen zwischen ihrer gewünschten und ihrer tatsächlichen Persönlichkeit erkunden.
Beispiele für Mikrointerventionen
- Fragestellungen fördern die Konzentration auf Veränderungsziele und aktualisieren die Wahrnehmung der Diskrepanz zwischen gewünschter und tatsächlicher Persönlichkeit.
- Fortschrittsrückmeldungen tragen dazu bei, das Gewahrsein für Diskrepanzen zwischen dem aktuellen und dem gewünschten Zustand zu schärfen.
Beispiele für Textbotschaften
- Stell Dir vor, dass Du von morgen an immer und überall Deine gewünschte Persönlichkeit zeigst. Wie würde Dein Leben in 5 Jahren aussehen? Was würde anders sein als heute?“
- „Im Vergleich zum letzten Monat hast du Dich bei deinem selbst gesteckten Veränderungsziel verbessert.“
Änderungsfaktor 2
Aktivieren von Stärken und Ressourcen: Dieser unterstützende Veränderungsfaktor macht sich vorhandene Persönlichkeitsmerkmale, Motivationen, Fähigkeiten, Interessen und soziale Beziehungen als Stärken und Ressourcen zunutze, um die Persönlichkeitsveränderung zu fördern und Veränderungsziele zu erreichen.
Beispiele für Mikrointerventionen
- Ein Ressourcentagebuch fördert den Veränderungsprozess, indem es den Teilnehmenden hilft, ihre Stärken und Ressourcen (z. B. das, was sie bereits am besten können) zu erkennen.
- Ein Veränderungsteam bietet während der gesamten Intervention soziale Unterstützung, um den Teilnehmer/innen zu helfen, ihre Veränderungsziele zu erreichen.
Beispiele für Textbotschaften
- „Nehmen wir an, Du drehst einen Film über einen schönen Moment in der letzten Woche. Was würdest Du in diesem Film sehen?“
- Deine morgige Aufgabe ist es, drei Dir nahestehenden Menschen von diesem Coaching zu erzählen und ihnen Dein Veränderungsziel mitzuteilen.“
Änderungsfaktor 3
Gedanken und Gefühle ansprechen, um Einsicht zu erlangen: Dieser lernorientierte Veränderungsfaktor fördert die Persönlichkeitsveränderung durch die Reflektion von Verhaltensweisen und Erfahrungen.
Beispiele für Mikrointerventionen
- Systematische Reflektion (als Lernstrategie) unterstützt eine umfassende Analyse und Bewertung von Erfahrungen.
- Psychoedukation (Wissensvermittlung, z.B. durch kurze Videoclips) fördert mehr Wissen und Kompetenz.
Beispiele für Textbotschaften
- „Versuche, in Zukunft bewusst innezuhalten, um über die erlebte Situation und das gezeigte Verhalten zu reflektieren.“
- „Die Forschung hat gezeigt, dass gewissenhafte Mitarbeiter/innen motivierter und produktiver sind und weniger Fehlzeiten haben.“
Änderungsfaktor 4
Zielorientierte Verhaltensweisen, die geübt werden sollen: Dieser handlungsorientierte Veränderungsfaktor konzentriert sich auf das Erlernen und Verstärken neuer oder veränderter Verhaltensweisen und Fähigkeiten, wie z.B. Kompensations- oder Bewältigungsfähigkeiten sowie auf das Verhalten in neuen sozialen Rollen.
Beispiele für Mikrointerventionen
- Per Selbstregulierungsstrategie die Zielerreichung fördern und die Gewohnheitsbildung unterstützen
- Per Verhaltensaktivierung die Ausführung von (neuen oder geänderten) Verhaltensweisen und die Beteiligung an Aktivitäten fördern
Beispiele für Textbotschaften
- „Erinnerst du Dich an dein persönliches Wochenziel (‚Wenn-Dann-Plan‘)?“
- „Nimm heute einen ungewöhnlichen Weg zur Arbeit und nach Hause. Oder bestelle zum Mittagessen ein Gericht, das du sonst nie bestellen würdest.“
Quellen / Anmerkungen
(1) Mathias Allemand; Flückiger, Christoph, “Personality Change Through Digital-Coaching Interventions”, in: Current Directions in Psychological Science 2022, Vol. 31 (1) S. 41-48
(2) Klaus Grawe, Neuropsychotherapie; Göttingen (2004) – vgl. Heinz W. Droste, Kommunikation, Band 2: Mechanismen; Hückelhoven (2020), S. 291 – 347 sowie Entfessele Dein bestes Denken!; Hückelhoven (2022), S. 117 – 223
Bildnachweise
Unsplash:
- Bharat Patil
- Patrick-di-Fusco
- Ash Saribekyan
- Designecologist